Handelst Du verantwortungsvoll oder gehst Du in Verantwortung?

Laut Christopher Avery ist das ein fundamentaler Unterschied. In seinem Buch „The Responsibility Process“, erläutert der amerikanische Organisationswissenschaftler Christopher Avery seine Sichtweise1. Avery erklärt, welche natürlichen Bewältigungs- und Vermeidungsmechanismen bei der Übernahme oder Vermeidung von Verantwortung greifen.

Mich hat das Buch fasziniert, mir die Augen geöffnet und mich voran gebracht. Deshalb möchte ich es hier vorstellen.

Unsere Kultur vermittelt uns, dass manche Personen Verantwortung übernehmen und andere es vermeiden. Wir sagen häufig über andere, dass sie Verantwortung übernehmen sollten. Begriffe rund um Verantwortung und Verpflichtung werden in unserem Sprachgebrauch ungenau und austauschbar verwendet.

Der Autor erklärt zu Beginn den fundamentalen Unterschied zwischen „wir handeln verantwortungsvoll“ und „wir gehen in Verantwortung“.

Wir handeln verantwortungsvoll,
wenn wir eine Verpflichtung übernommen haben oder eine Verantwortung innerhalb einer Rolle ausüben.
Wir können in Verantwortung gehen und uns entscheiden, zu 100% aus Verantwortung zu handeln

Verantwortungsvoll zu handeln ist durch gesellschaftliche Normen konditioniert.

Es gilt als positiver Charakterzug ein verantwortungsvoller Mensch zu sein und durch Pflichterfüllung zur Gesellschaft beizutragen.

Es führt leider dazu, dass wir Erwartungen entsprechen, die andere an uns richten.

Das Verharren im verantwortungsvollen Handeln löst bei vielen Menschen ein Gefühl der Oberflächlichkeit und Unfreiheit aus.
Wenn wir aus Verantwortung handeln, tun wir Dinge aus Überzeugung und weil wir es wollen.

Wir nehmen ein Problem in Besitz und lösen es, anstatt es nur zu verwalten.

Wir selbst sind die treibende Kraft für Resultate und Erfahrungen in unserem Leben.

Verantwortung zu übernehmen, geschieht nur aus freiem Willen heraus und nicht erzwingbar.

Wer Verantwortung übernimmt, agiert kraftvoll, wirksam und motiviert und ist sich dessen auch bewusst.

Der Autor fragte sich schon als junger Mann, wie er hart arbeiten, erfolgreich sein und sich gleichzeitig erfüllt und sinnstiftend fühlen kann. Er war von Sorge getrieben nicht erfolgreich zu sein, anstatt erfüllt zu sein von der Freude und Möglichkeit seiner Leidenschaft nachzugehen.

Averys Lebensfrage: „Wie kann ich nach aussen erfolgreich und gleichzeitig nach innen erfüllt sein?“, hat ihn zum RESPONSIBILITY PROCESS™ geführt:

Averys Buch ist interessant für Berufstätige, die sich in einer Sackgasse befinden, nach einer erfüllenden Veränderung suchen und die Freiheit, Optionen und Kraft erleben wollen.

Das Buch richtet sich an Menschen, die SICH SELBST führen wollen, Leader, die in Unternehmensorganisationen ANDERE FÜHREN sowie Menschen, die in ihrem Umfeld ANDERE FÖRDERN wollen (als Eltern, Lehrer, Coach…)

Der von Avery beschriebene RESPONSIBILITY PROCESS ™ veranschaulicht, mit welchen mentalen Reaktionen wir auf Probleme reagieren. Es ist ein natürlicher Prozess, der bei allen von uns abläuft, egal ob wir es bewusst wahrnehmen oder nicht. In diesem Prozess werden verschiedene Zustände durchlaufen. Während wir

   LEUGNEN (es gibt kein Problem)
   BESCHULDIGEN (jemanden anderes hat das Problem verursacht)
   RECHTFERTIGEN (die äußeren Umstände waren schuld)
   SCHÄMEN (ich nehme die „Verantwortung“ auf mich)
   oder AUFGEBEN

verschwindet das Problem nicht. Wir arrangieren uns damit, wir betrachten uns als Opfer .

Kommen wir in den Zustand VERPFLICHTUNG, sehen wir uns gezwungen, wir müssen. Kulturelle Prägung lehrt uns, dass es gut ist, unserer Verpflichtung nachzukommen, selbst wenn sie uns nicht gefällt. Unsere Motivation ist niedrig und wir werden nicht richtig bei der Sache sein.

Nur im Zustand IN VERANTWORTUNG sind wir stark, haben alle Optionen, wir sind die Handelnden. Wir haben die innere Erfahrung von Freiheit und Kraft. Erst wenn wir Probleme IN VERANTWORTUNG nehmen, wachsen wir, Probleme lösen sich und kommen nicht zurück.

Die genannten Zustände werden nicht zwingend alle oder in dieser Reihenfolge durchlaufen. Wir können in jedem Zustand stecken bleiben, kurz oder lang oder sogar für immer.

Im weiteren Verlauf des Buches zeigt uns Christopher Avery, wie wir es schaffen möglichst oft IN VERANTWORTUNG zu gelangen. Dazu stellt er die drei Schlüssel zur Verantwortung vor und schlägt das „Erwische dich eher Spiel“ vor.

Aufsetzend auf den Werkzeugen im Grundlagenteil baut Avery seine Folgekapitel auf. Es beginnt bei Selbstführung und geht über gemeinsame Verantwortung und gemeinsames Führen, zur Frage, wie man Verantwortung in anderen entwickelt und wie man in Organisationen von Verantwortung zur Verantwortlichkeit kommt. Interessant waren für mich die Ausflüge in spezielle Fragestellung, wie der Umgang mit Zynismus und Sarkasmus, Quellen von Macht oder wie wir andere um Verantwortung bitten können.

Avery schreibt strukturiert, in verständlicher Sprache, mit nachvollziehbaren Praxisbeispielen. Zu jedem Kapitel gibt es Zusammenfassungen, Übungen und direkte Fragen an den Leser. Die Fragen fand ich regelmäßig hilfreich, um den RESPONSIBILITY PROCESS™ auf meine Situation abzubilden.

Hervorheben möchte ich das humane Menschenbild, das Averys Buch zugrunde liegt. Bei Avery besteht die Welt nicht aus Gewinnern und Verlierern. Es gibt keine Trivialitätsannahmen oder fragwürdige Vereinfachungen. Die Argumentation ist logisch. Avery fordert keine Radikalkur sondern verweist wiederholt darauf, das Entwicklungsprozesse in kleinen Schritten stattfinden.

Avery hat einen breitgefächerten Blick auf sein Thema, der Spass beim Lesen bereitet und zum Weiterlesen angeregt. Philosophische Betrachtungen zur Verantwortung kommen ebenso vor wie psychologische Grundlagen und gesellschaftspolitische Fragen.

Avery stellt kurz die Idee des alternativen Conscouis Capitalism vor, der bei Deals die Interessen des gesamten Ökosystems (Kunden, Angestellte, Lieferanten, Investoren, Gemeinden, Regierungen) berücksichtigt. Solche Deals zielen auf eine umfassende Lösung und erreichen win/win/win/win/win/win Ergebnisse.

Im Gegensatz dazu maximiert der vorherrschende Crony Capitalism (Vetternkapitalismus) den Shareholder Value und erzeugt Gewinner und Verlierer. Damit verbunden sind häufig Ergebnisse bei denen die meisten Beteiligten langfristig verlieren.

Wo fand ich Averys Buch besonders überzeugend? Avery erklärt, wann und warum Verantwortung in Unternehmensorganisationen nicht funktioniert. In Organisationen, die ein Verantwortlichkeitssystem installieren, anstatt Verantwortung zu fördern, werden komplizierte Kontrollsysteme eingeführt, um ein falsches Gefühl von Kontrolle zu erlangen. Je präsenter ein solches System ist, um so weniger Verantwortung wird tatsächlich praktiziert. Im Gegenzug brauchen Organisationen, die eine Kultur der Verantwortung schaffen, diese Leistungskontrollsysteme nicht, um Hervorragendes zu leisten. Avery zeigt den Weg auf, zu solch einer Kultur der Verantwortung zu kommen.

Abschließend noch zur oft gestellte Frage: „Warum übernehmen die anderen keine Verantwortung?“ Nach dem Lesen des Buchs wird klar, dass die Frage anders gestellt werden muss und die richtige Frage bei einem selbst beginnt: „Wie kann ich mich zeigen, um andere zu ermutigen, in Verantwortung zu gehen?“ Avery macht den Lesern klar: „Wenn Du anstrebst in Verantwortung gehen, sei Dir bewusst, dass du meistens die verantwortungsvollste Person sein wirst.“

Das Buch von Christopher Avery „The Responsibility Process“ möchte ich sehr empfehlen als Buch mit großem Wirkungspotenzial für berufliches und privates Handeln.


  1. Christopher Avery „The Responsibility Process“ dpunkt.verlag aus dem Englischen übersetzt von Sandra Sieroux, Nadine Wolf, Henning Wolf ↩︎

Ariane Scheer
Ariane Scheer

Agile Leader
Brückenbauer



Ich helfe Unternehmen in agilen Projekten steuerungsfähig zu bleiben.